Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
Released by matroid on Fr. 30. Juli 2004 09:53:25 [Statistics] [Comments]
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Mathematik

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Funktionentheorie existentiell
- Sartres Residuensatz

Wie oft habe ich seit Beginn meines Studiums von so vielen höheren Semestern gehört, Funktionentheorie sei die "Königin der Analysis", die schönste und klarste Mathematik zumindest im Grundstudium! Eigentlich ein guter Grund, sehr, sehr skeptisch zu sein... Doch die Skepsis war umsonst. In der Tat ist die Theorie holomorpher (griechisch für "ganzheitlich") Funktionen, von Singularitäten und Residuen (lateinisch für Rest, Überbleibsel) eine der interessantesten und faszinierendsten mathematischen Gebiete, in die ich bisher hineinschnuppern durfte: Es werden Zusammenhänge geschaffen zwischen komplexer Differenzierbarkeit, Potenzreihen, komplexen Wegintegralen und und und... Höhepunkte waren der erstaunliche Satz von Liouville mit dem Fundamentalsatz der Algebra als Korollar im Gepäck und, natürlich, der Residuensatz...



Er sieht überraschend aus, fast schon zu einfach, hat sehr viele, insbesondere auch reelle, Anwendungen und ... ist tief existentiell-philosophisch! Was ich damit meine?



Zunächst ein paar (grobe) Worte zum Existentialismus: Von Philosophen wie Hegel und Kierkegaard vorbereitet, war der Existentialismus Jean-Paul-Sartres eine der einflussreichsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Ihr Leitmotto hieß "Die Existenz geht der Essenz voraus.", was Sartre selbst als "Der Mensch wird das sein, wozu er sich gemacht haben wird." interpretierte: Der Mensch verschafft sich im Laufe seines Lebens den Sinn seines Lebens selber durch seine freien Handlungen und formt durch sie die Welt. Dadurch ist er nicht nur für sein Tun, sondern für die ganze Welt verantwortlich. Am Lebensende wird dann der Wert seiner Handlungen und damit seines Lebens deutlich...

Was hat das nun mit dem Residuensatz zu tun?

Die Welt, die sich dem Menschen am Anfang seines Lebens darstellt, ist sehr komplex, ein großes Feld, in dem er sich seinen Lebensweg bahnen möchte. In jedem Punkt aber findet er dabei eine neue Richtung, einer, der er freiwillig folgt oder sich entgegenstellt. Dadurch scheint sein Weg beliebig: Er wählt Lebensmittelpunkte, um die er sich mehrmals windet, andere, vor denen er sich fürchtet, meidet er.
Doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo für ihn selber das Beliebige nicht mehr zählt, wo er einsieht, dass der Weg doch einen bestimmten Sinn erfüllen soll; letztendlich kommt er dort an, wo er begann und sein Weg schließt sich.
Was nun, fragt Sartre, hat sein Leben lebenswert gemacht? War es die Länge seines Weges? Nein. War es die Größe des Feldes, das er einschließen konnte? Nicht ganz. Es hat keinen Wert, sich den Dingen einfach nur so zu widmen, wie sie gerade auf einen zukommen; die Welt pauschal ganzheitlich anzunehmen, so dass ihr Rahmen schon genügt, um das Innere zu kennen, gibt dem Leben null Sinn. Was also bestimmt denn seinen Wert?



Es sind gerade die Punkte in der Welt, die von den anderen abfallen, die etwas Singuläres haben: Sie zeigen, dass die Welt eben nicht überall ganzheitlich und vorhersehbar ist und dass das Leben Sinn machen kann. Gut, einige dieser Punkte waren nur scheinbar singulär, ihre Einzigartigkeit war nur gestellt; diesen Trug konnte der Mensch aber leicht beheben. Die echten aber waren die Punkte, die ihm nun verraten, was er auf seinem Lebensweg geleistet hat: Zum einen die extremen Pole, die ihn aufwühlten, die ihm die Unberechenbarkeit der Welt ganz klar vor Augen führten. Wesentlich waren aber die anderen Singularitäten: Sie stellten ihn vor eine Entscheidung, wie er sich ihnen zu nähern hatte, so dass auf einmal möglich alles möglich wurde! Für jedes Mal, da sich sein Leben, um einen echten singulären Punkt drehte, machte es mehr Sinn und dieses Mehr ist das, was von ihnen für immer überbleibt.


So braucht der Mensch nur zu wissen, wo für ihn die Welt seine Einzigartigkeiten hat, um den Sinn seines Lebens zu erkennen.
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Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz [von Hasan]  
Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz Wie oft habe ich seit Beginn meines Studiums von so vielen höheren Semestern gehört, Funktionentheorie sei die "Königin der Analysis", die schönste und klarste Mathematik zumindest im Grundstudium! Eigentlich ein guter Grund, sehr, sehr skept...
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von: am: Do. 01. Januar 1970 01:00:00
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"Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz" | 7 Comments
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Re: Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
von: matroid am: Fr. 30. Juli 2004 10:17:10
\(\begingroup\)Hallo Hasan,

das ist ein sehr kluger und mir eingängiger Gedanke.
Ich hoffe, daß Du viele Leser findest, auch wenn der Anfang das Ziel des Artikels noch nicht erkennen läßt.

Gruß
Matroid\(\endgroup\)
 

Re: Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
von: murmelbaerchen am: Fr. 30. Juli 2004 10:58:40
\(\begingroup\)Mein Leben eine Trajektorie im Phasenraum der Gesellschaft?

gruss
leapfrogbärchen\(\endgroup\)
 

Re: Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
von: Diffform am: Fr. 30. Juli 2004 11:37:34
\(\begingroup\)Hallo Hasan,

ich finde diese philosophische Interpretation des Residuensatzes gigantisch, insbesondere die der verschiedenen Singularitäten...

Wär super, wenn das der Anfang einer Reihe von Interpretationen und Auslegungen wichtiger mathematischer Grundlagen wäre!!

Gruss, Bastl\(\endgroup\)
 

Re: Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
von: FriedrichLaher am: Fr. 30. Juli 2004 14:00:05
\(\begingroup\)war "LeiDmotto" absicht oder Schreibfehler?\(\endgroup\)
 

Erst einmal....
von: Hasan am: Fr. 30. Juli 2004 14:05:54
\(\begingroup\)...vielen Dank für eure netten Kommentare... Mir ist gestern die Idee zu diesem Artikel gekommen, als ich irgendwie das Numerik-Lernen aufschieben wollte und mich mit nochmal mit FT beschäftigt habe...

@FriedrichLaher:

Das ist echt nur ein Tippfehler... *sichärger*\(\endgroup\)
 

Re: Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
von: bodzcount am: Mo. 01. November 2004 22:24:34
\(\begingroup\)Hallo Hasan, du hast einen sehr gelungenen und höchst interessanten Artikel hervorgebracht. Gruß Benjamin\(\endgroup\)
 

Re: Funktionentheorie existentiell - Sartres Residuensatz
von: Nodorsk am: Fr. 26. Mai 2006 23:35:11
\(\begingroup\)Hallo, das ist wirklich ein schöner Artikel. Man muss an manchen Stellen schmunzeln, wie du den Residuensatz mit der Philosophie verbunden hast, ist wirklich sehr gelungen und zugleich unerwartet ;) Glückwunsch. Gruß Nodorsk\(\endgroup\)
 

 
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