Drei wohlbegründete Lösungen für ein Problem
Von: matroid
Datum: Di. 02. Juli 2002 00:57:19
Thema: Mathematik
\(\newcommand{\IX}{\mathbb{X}} \newcommand{\IW}{\mathbb{M}} \newcommand{\politician}[1]{\text{Ich habe die Frage nicht verstanden. #1}} \newcommand{\ba}{\begin{aligned}} \newcommand{\ea}{\end{aligned}} \newcommand{\bpm}{\begin{pmatrix}} \newcommand{\epm}{\end{pmatrix}} \newcommand{\bc}{\begin{cases}} \newcommand{\ec}{\end{cases}} \newcommand{\on}{\operatorname} \newcommand{\ds}{\displaystyle}\)
 
Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist eine zufällig in einen Kreis gezeichnete Sehne länger als die Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks?

Mit dieser Frage hat 1888 der frz. Mathematiker Joseph Bertrand seine Kollegen von der Wahrscheinlichkeitstheorie aus der Fassung bringen wollen und auch gebracht, denn er gab gleich 2 verschiedene gleichermaßen richtige Lösungen an. Zu diesen zweien hat sich mittlerweile sogar noch eine dritte richtige Antwort gesellt.

Die zu jener Zeit noch nicht sehr gefestigte Wahrscheinlichkeitsrechnung setzte er damit dem Vorwurf der Beliebigkeit aus. Was soll das für eine Wissenschaft sein, die nicht in der Lage ist, bei alternativen Ansätzen für ein Problem zu einem Ergebnis zu kommen?

Erste Lösung

Jede Sehne eines Kreises ist durch ihre 2 Endpunkte auf dem Kreisbogen eindeutig bestimmt.
Für eine gegebene Sehne kann man o.B.d.A. das einbeschriebene gleichseitige Dreieck so drehen, daß eine seiner Ecken mit einem der Endpunkte der Sehne übereinstimmt.
Der andere Endpunkt der Sehne liegt dann entweder auf dem Kreisbogen über der dem ersten Endpunkt gegenüberliegenden Dreiecksseite (Kreisbogen über der roten Fläche) oder auf einem der Kreisbögen über den dem Endpunkt anliegenden Seiten des Dreiecks (dem Kreisbogen über einer der gelben Flächen). Wenn der zweite Punkt auf dem gegenüberliegenden Kreisbogen liegt, dann ist die Sehne länger als die Seitenlänge des Dreiecks; ansonsten ist sie kürzer.
Die Länge der Kreisbögen für die günstigen zu den ungünstigen Fällen verhält sich wie 1:2.
Eine zufällig eingezeichnete Sehne hat also mit Wahrscheinlichkeit 1/3 eine Länge größer als die Dreiecksseite.

Zweite Lösung

Jede Sehne hat einen Mittelpunkt. Der Mittelpunkt liegt entweder im Inkreis des Dreiecks oder außerhalb.
Wenn der Mittelpunkt der Sehne im Inkreis liegt (rote Fläche), dann ist die Sehne länger als die Dreiecksseite, ansonsten kürzer (gelbe Fläche).
Der Inkreis hat den halben Radius des ursprünglichen Kreises. Die Fläche des Inkreises beträgt 1/4 der Fläche des Gesamtkreises.
Eine zufällig eingezeichnete Sehne hat darum mit Wahrscheinlichkeit 1/4 eine Länge größer als die Dreiecksseite.

Dritte Lösung

Jede Sehne hat einen Mittelpunkt. Die Senkrechte im Sehnenmittelpunkt ist ein Durchmesser des Kreises. Auf diesem Durchmesser liegt der Sehnenmittelpunkt entweder weniger als den halben Radius vom Kreismittelpunkt entfernt oder eben weiter entfernt.
Wenn der Mittelpunkt der Sehne näher am Kreismittelpunkt als am Kreisbogen liegt, dann ist die Sehne länger als die Dreiecksseite, ansonsten kürzer.
Die Lage der Sehnenmittelpunkte auf dem betrachteten Durchmesser ist zur Hälfte günstig (roter Teil des Durchmessers) und zur Hälfte ungünstig (gelber Teil des Durchmessers).
Eine zufällig eingezeichnete Sehne hat also mit Wahrscheinlichkeit 1/2 einen Sehnenmittelpunkt der näher am Kreismittelpunkt als am Kreisbogen liegt. Damit ist mit Wahrscheinlichkeit 1/2 die Sehne länger als die Dreiecksseite.

Alles klar?

Das Problem ist heute als Bertrands Paradoxon bekannt.

Bei Bertrand's Paradox von www.cut-the-knot.com finden sich Applets, die die verschiedenen Ansätze auswerten helfen.

Sehenswert sind die animierten Lösungen bei web.mit.edu.
Klicke auf 1/2 und Du lernst mehr über die Chancen eine Pizza vernünftig zu teilen.
Klicke auf 1/3 und Du erfährst, wie groß Deine Chancen sind, eine Meerjungfrau zu fotografieren.
Klicke auf 1/4 und Du weißt, wie gefährdet das Wild in der Umgebung eines feuerspeienden Drachen ist.

Schließlich gibt es gar noch eine

Vierte Lösung

Die Länge einer Sehne ist größer 0 und höchstens gleich dem Durchmesser d des Kreises.
Eine zufällig gewählte Sehne hat eine Länge aus ]0,d]. Da die Sehne zufällig gewählt wird, sind alle Längen gleich wahrscheinlich. Die Seitenlänge des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks beträgt sqrt(3)/2*d. Die Wahrscheinlichkeit einer Sehne mit Länge kleiner oder gleich sqrt(3)/2*d beträgt also sqrt(3)/2, und die gegenteilige Wahrscheinlichkeit ist ca. 0.133. Das ist die gesuchte Wahrscheinlichkeit.

Auflösung

Wenn aber keine der drei (vier) beschriebenen Lösungen falsch ist, dann bleibt die Frage nach der Antwort der Wahrscheinlichkeitstheorie auf Bertrands Paradoxon!

Der in der Aufgabe verwendete Terminus 'zufällige Sehne' ist nur scheinbar wohldefiniert. 'Scheinbar' deshalb, weil der Begriff zunächst nicht als kritisch in seiner Bedeutung angesehen wird, tatsächlich aber verschiedene Interpretationen zuläßt (wie gesehen).

Die 3 animierten Lösungen zeigen es: jede der drei Antworten ist die richtige Antwort für ein bestimmtes Wahrscheinlichkeitsexperiment. Abhängig vom durchgeführten (Gedanken)-Experiment werden jeweils andere Interpretationen der 'zufällig gewählten Sehne' angewendet.

Die Aufgabenstellung erweckt den Eindruck, daß zufällige Sehne eine feststehende Bedeutung hat.
Jeder, der sich mit der Aufgabe beschäftigt, gelangt nach einiger Betrachtung des Problems zu irgendeiner ihm plausibel erscheinenden Ansicht - meistens die erste, die ihm einfällt.
Mit dieser persönlichen Festlegung auf eine bestimmte Interpretation ist die Lösung dann schnell berechnet, und der Lösende hat - weil alles so überzeugend zusammenpaßte - keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Lösung. Erst wenn man mit einer der anderen Lösungen konfrontiert wird, beginnt man den Fehler zu suchen - selbstverständlich in der anderen Lösung. Aber da man keinen Fehler finden kann - beide (alle) Interpretationen haben ihre Berechtigung in der realen Welt - wird die Aufgabe zum Paradoxon.

In einem Skriptum Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik heißt es diesbezüglich:

Die Aufgabe ist damit ein Lehrbeispiel, um den Sinn für fortgeschrittenere Wahrscheinlichkeitskonzepte zu entwickeln, insbesondere die Notwendigkeit einer Maßtheorie zu begründen.
Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses hängt vom zugrundeliegenden Maßraum ab. Es gibt zwar äquivalente Charakterisierungen von Sehnen, aber die Maßräume zu unterschiedlichen Charakterisierungen müssen nicht übereinstimmen.

Matroid 2002
 



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