Eine zentrale Frage um das Zentrum des Universums
Von: mudo-san
Datum: Mo. 09. Januar 2006 19:35:59
Thema: Bildung

Der Mann, der vor mir sitzt, hätte einer dieser verrückten Komponisten sein können. Er sieht aus wie eine nicht ganz so düstere Ausgabe von Ludwig van Beethoven, auch wenn der knapp 250 Jahre nach ihm gelebt hat. Ich trete ein paar Schritte auf ihn zu. Seine braunen Locken scheinen ihm vor den Guckfenstern zu hängen, denn er streicht sie sich zur Seite und ich kann seine Augen sehen, die auf einem mit wirren Zahlen beschriebenen Blatt ruhen. Er murmelt irgendwas Unverständliches. Ich muss euch sagen, der Gute riecht auf einen Meter Entfernung schon etwas streng! Also, nicht dass ich jetzt jemandem zu nahe treten möchte, aber ich glaube, der hatte ein paar Tage zu viel ohne Dusche verbracht. Ich räuspere mich. Der Mann schnellt herum. „Hi!“, sag ich. „Mein Name ist Marie.“ „Was tut Ihr hier?“, erwidert er mit einem markanten polnischen Akzent. „Ich? Äh, also, um ehrlich zu sein, ich bin durch die Zeit gereist, also, eigentlich bin ich gar nicht hier. Später werden Sie denken, Sie hätten einen schlechten Traum gehabt, oder zu viel gesoffen oder so…“„Durch die Zeit gereist? Sagt, wie wollt Ihr denn durch die Zeit gereist sein? Seid Ihr eine Hexe?“ „Ich, ne. Aber das ist jetzt ja auch gar nicht wichtig.“ Ich sehe mich in dem kleinen Zimmer um. Der Mann sitzt an einem Schreibpult, auf einer Art Schemel. Scheint nicht grade bequem zu sein. Rechts von ihm ist ein Regal mit ein paar Büchern. Über dem Schreibpult ist ein kleines Fenster, von dem aus man auf die Straße schauen kann und auf der anderen Seite des Zimmers befindet sich die Tür. Ich setz mich auf den Stuhl neben dem Mann. „Und? Wer sind Sie jetzt genau?“, frage ich. „Mein Name lautet Nikolaus Kopernikus.“ Ich wäre fast vom Stuhl gefallen. Kopernikus? DER Kopernikus?? Na ja, so schlecht sah der ja gar nicht aus, auch wenn das Kinn ein bisschen arschig ist, so wie bei Eminem. Aber das ist ja irgendwie auch ganz süß. „Wow! Das ist ja abgefahren! Und an was schreiben Sie da?“ „Das ist ein Brief an einen Freund.“ „Aber da sind doch bloß Zahlen!“ „Nun ja, wir führen eine sehr eigene Korrespondenz. Darf ich fragen, wie alt Ihr seid? Ihr scheint noch nicht ganz den Kinderjahren entflohen zu sein!“ „Noch nicht ganz den Kinderjahren entflohen? Verdammt, ich bin 16! Wie alt sind Sie denn?“ Kopernikus lacht. „Ich bin 24!“ Bild „Dann sind Sie ja auch nicht grad mit Weisheit gesegnet!“ Er lacht schon wieder. „Wahrlich, Ihr habt ein lautes Mundwerk, passt lieber auf, dass Ihr nicht mit den Falschen in Streit geratet!“ „Ach, keine Sorge, ich hab eh nicht vor, lang zu bleiben.“ „Schade“, sagt Kopernikus. „Wo sind wir hier eigentlich?“, frag ich, um ein bisschen auf den neusten Stand zu kommen. Hatte Kopernikus mit 24 schon dieses Zeug über die Bewegung der Planeten geschrieben? „Wir befinden uns im Haus von Domenico Maria de Novara. Ich studiere Recht und Medizin an der Universität von Bologna.“ „Recht und Medizin?“, frag ich erstaunt. „Warum denn das?“ „Das ist so Brauch bei uns.“ Verdammt, denk ich. Da sitzt du vor Nikolaus Kopernikus und der hat gar keine Ahnung von Astronomie. Der studiert ja noch Recht und Medizin. „Was sagten Sie, wem dieses Haus gehört?“ „Domenico Maria de Nova. Er ist ein sehr intelligenter Mann.“ „Ja, richtig! Der bringt ihnen doch Mathe bei, oder?“ Kopernikus sieht mich verwirrt an. „Ja, er unterrichtet mich in Mathematik und Astronomie, aber woher wisst Ihr das?“ „Oh, das ist eine andere Geschichte.“ Er mustert mich neugierig von der Seite. „Also“, beginne ich, „haben Sie sich schon mal gefragt ob die Erde wirklich in der Mitte des Universums liegt? Äh.. in der Mitte der Welt?“ „Ihr meint, ob ich die Kirche angezweifelt habe?“ „Ähm… na ja, so würde ich das jetzt ja nicht sagen. Ich wollte ja bloß mal fragen. Wissen Sie, ich habe da mal so was gelesen. Es hat eigentlich gar keine Bedeutung! Ist bloß eine Schrift von irgendeinem Verrückten, aber vielleicht finden Sie’s ja ganz interessant! Könnte ich mir mal kurz die Feder ausborgen? Und ein Stück Papier?“ Kopernikus reicht mir Feder und Papier und ich fang an zu zeichnen. „Natürlich wissen wir, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt ist. Wie sollte es auch anders sein, aber wir wollen jetzt einfach mal annehmen – und ich sage bewusst „annehmen“, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt sei.“ Ich zeichne ein paar Ringe, die sich um ein Zentrum bilden. „Welchen Himmelkörper würden Sie in die Mitte setzen?“ Kopernikus sieht etwas überfordert aus. „In die Mitte?“, fragt er. „Ja!“, antworte ich. „Da ist ja jetzt was frei, das können wir ja nicht einfach leer lassen!“ Er nickt. „Ja, da muss etwas anderes hin“, sein Blick schweift aus dem Fenster und dann wieder zu mir. „Sagt, kann ich Euch vertrauen?“ Ich lache. „Sie können mir alles erzählen, ich werde es bestimmt nicht verraten.“ Kopernikus lächelt. „Gut.“, sagt er. „Dann will ich Euch etwas verraten. Ihr habt sicher schon einmal von der Theorie gehört, in der die Sonne der zentrale Weltkörper ist, oder?“ Ich nicke. „Ich habe mir einige Gedanken darüber gemacht“, fährt er ganz aufgeregt fort. „Und Domenico hat mir ein paar Schriften gezeigt, in denen diese Weltanschauung beschrieben ist. Nun, ich denke“, er beginnt zu flüstern: „Ich denke auch so. Aber Ihr dürft nicht laut darüber sprechen! Es ist ein sehr gefährliches Thema!“ „Ich weiß, ich weiß. Aber Sie sollten sich nicht von diesen Kuttenfreaks davon abhalten lassen, der bedeutendste Astronom aller Zeiten zu werden. Also, was soll ich jetzt in die Mitte schreiben?“ „Schreibt Sonne.“ „Gut“, sage ich und zeichne einen Punkt und ein S in das Zentrum der vielen Kreise.
 
„Aber nun brauchen wir eine Begründung. Warum sitzt die Sonne in der Mitte der Welt? Und wo ist die Erde hin?“ Kopernikus seufzt. „Ja, diese Fragen habe auch ich mir schon gestellt. Ich habe noch nicht alle meine Ausführungen durchdacht, aber ich denke, dass die Sonne still steht. Und dass die Erde um die Sonne kreist. Daraus lässt sich erschließen, dass die Erde rund ist!“ Ich tue so, als ob das das Unglaublichste wäre, was ich je gehört hatte. „Nein! Wirklich? Ihr sagt, die Erde sei rund?“ Kopernikus hat Feuer gefangen: Er gestikuliert wild und erzählt mir von seinen Theorien und Gedanken, die ihn schon seit einiger Zeit beschäftigen. Endlich! Das ist Kopernikus, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte! „Aber ja! Die Erde ist rund, denn nur eine Kugel könnte solch kreisende Bewegungen vollführen! Außerdem ist auch die Welt rund, und sie enthält weit mehr Sterne als jene heute bekannten. Seht, wenn ich einmal versuchen darf, Euch zu erklären, warum ich die Erde als rund bezeichne. Hier ein Beispiel: Die Bewohner des Ostens nehmen die am Abend, und die des Westens die am Morgen eintretende Sonnen- und Mondfinsternisse nicht wahr, die dazwischen Wohnenden aber jene später und diese dagegen früher.“ In Gedanken wiederhole ich den Satz. Der Mann sollte wirklich an seiner Ausdrucksweise arbeiten. „Ja, ist klar“, sage ich und nicke. „Hört sich logisch an.“ Bild
 
Kopernikus zeigt mir noch irgendwelche total bekloppt aussehenden Formeln. Kein Plan, was die bedeuten sollen. Ich bin immer schön am Nicken und „Ah!“ und „Oh!“ sagen, und er scheint damit zufrieden zu sein. Aber dann wird es ziemlich still im Raum. Draußen steht mittlerweile der Mond auf Halbmast. Wir hatten ziemlich lang geredet. „Nun“, sagt Kopernikus und lässt sich wieder auf seinen Hocker fallen. „Jetzt habe ich Euch so viel über mich erzählt, und Ihr hattet gar keine Zeit, mir etwas über Euch zu erzählen.“ „Sie wollen doch nicht echt was über mich hören, oder?“, ich fang an zu lachen. Da sitzt Nikolaus Kopernikus vor mir und will, dass ich ihm von meinem tierisch langweiligen Leben erzähle. „Was findet Ihr denn so amüsant?“ „Ich? Nix. Aber ich glaub, wir sollten ein anderes Mal über mich reden. Sie sind jetzt viel interessanter.“ „So? Wisst Ihr denn... ich meine… kennt Ihr meine Zukunft?“ Da muss ich erstmal schlucken. Sollte ich dem Mann wirklich von seiner Zukunft erzählen? Was, wenn ich da jetzt irgendwas kaputt mache? Wie bei „Zurück in die Zukunft“, wo der Sohn von dieser einen Frau in die Vergangenheit reist und sich dann seine Mutter in ihn und nicht in seinen Vater verknallt. Kennt ihr die Stelle? Na ja, ist ja auch egal, jedenfalls will ich jetzt nix verdrehen. Obwohl ich das ja vielleicht schon getan hatte, oder? „Nun?“, drängelt Kopernikus. „Nja, ich weiß ja nicht, ob ich da jetzt was zu sagen darf…“, versuch ich, mich raus zu hauen. Aber er lässt natürlich nicht locker: „Nun sagt schon! Ihr müsst auch nicht alles erzählen, nur soviel: Werde ich ein guter Astronom sein?“ Ich seh ihn kurz an. Dann nicke ich. „Sie werden ein guter Astronom sein. Ein sehr guter.“ Da fängt Kopernikus dann plötzlich an zu weinen. Er heult richtig los und grinst nebenbei wie ein Honigkuchenpferd. Ich hab’s ja immer gewusst: diese Wissenschaftler sind total durchgeknallt. „Alles okay mit Ihnen??“, frage ich. Und er: „Das ist einer der schönsten Momente in meinem Leben. Gleich nach der Verdeckung des Sternes Aldebaran.“ „Aldewas?“ „Aldebaran! Er wurde durch den Mond verdeckt. Domenico und ich hatten es vor einigen Nächten beobachtet! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie beeindruckend dieser Moment war!“ Na toll! Der Mann ist wirklich verrückt. Aber leider nicht verrückt genug, um sein "De Revolutionibus Orbium Coelestium", oder wie auch immer das hieß, noch vor seinem Tod zu veröffentlichen. Okay, das wäre ihm wahrscheinlich nicht so gut bekommen, wegen Gotteslästerung und so. In dem Buch beschreibt er ja seine ganzen verrückten Ideen. Und dann wird der Mann auch noch Priester! Wie kann jemand, der mal eben das komplette Weltbild der Kirche umwirft, bloß einer von denen werden? „Worüber denkt Ihr nach?“, fragt mich Kopernikus plötzlich. Er hat sich die Tränen an seinem Hemd abgewischt und scheint jetzt noch tausendmal glücklicher. „Ach, ich hab mich bloß grade gefragt, warum Sie Priester sind.“ „Ja, das ist wahrlich eine berechtigte Frage“, sagt er. „Nun, es ist so: Menschen fügen sich gegenseitig viel Leid zu. Und manche versuchen, anderen ihre Meinung aufzuzwingen.“ Ich nicke. Er fährt fort: „Die Kirche besteht aus Menschen. Und Menschen irren sich nun mal. Versteht Ihr?“ „Ja“, sage ich. „Ich denke schon.“ Ich muss unwillkürlich daran denken, dass dieser Mann noch vielen Menschen helfen wird. Armen, die einen Arzt benötigen. Und Reichen, die bei ihm klingeln gehen, weil er so ein schlauer Hengst ist. „Hei! Nikolaus“, sage ich plötzlich. „Ja?“ „Haben Sie ein bisschen was zu trinken da?“ Er grinst. „Nun, eigentlich darf ich ja nicht, aber für Euch mache ich eine Ausnahme.“ Und dann trink ich mit Nikolaus Kopernikus Bruderschaft, bis wir beide hacke sind. Beim ersten Mal schnallt er nicht, wie’s geht, so dass ich ihm sieben Jahre schlechten Sex prophezeie. Dann ist mir aufgefallen, dass der Gute als Priester ja sowieso keinen Sex haben darf. Schließlich schaff ich's irgendwie noch, vor Sonnenaufgang wieder in meine Zeit zu kriechen. Am nächsten Morgen hab ich derbstes Schädelbrummen und lass erstmal die ersten beiden Stunden Schule sausen. Auch egal. Die sollen sich mal nicht so anstellen. Wie mal ein guter Freund von mir gesagt hat: „Wir umkreisen die Sonne, wie jeder andere Planet auch.“
Die Idee zu diesem Artikel entsprang der Arbeitsgruppe „Schulmathematik“.

 


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