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Mathematik » Finanzmathematik » Interpretation von stochastischen Differenzialgleichungen
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Universität/Hochschule J Interpretation von stochastischen Differenzialgleichungen
Mathefreund123
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  Themenstart: 2019-05-06

Hallo Zusammen, Ich beschäftige mich zur Zeit mit stochastischen Differenzialgleichungen (SDGL) in der Finanzmathematik. Dabei stoße ich oft auf das Black-Scholes-Modell und die damit verbundene SDGL \[d S_t = S_t \mu dt + S_t \sigma d W_t, \qquad S_0 = s\] also in Integralform \[S_t = S_0 + \int_{0}^{t} S_s \mu ds + \int_{0}^{t} S_s \sigma d W_s\] wobei \(\mu \in \mathbb{R}\), \(\sigma, s > 0\) und \((S_t)_{t \geq 0}\) der Preisprozess der risikobehafteten Aktie ist. In der Literatur wird immer davon gesprochen, dass sich der Preisprozess wie die SDGL verhält. Doch wie ist diese zu interpretieren? Was kann ich daraus ablesen? Die allgemeinere Frage ist: Wie sind SDGL im allgemeinen zu interpretieren? Ich hoffe jemand kann hier Licht ins Dunkel bringen. :) LG Mathefreund123 PS: Wissen über das stochastische Integral ist vorhanden.


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AnnaKath
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  Beitrag No.1, eingetragen 2019-05-06

Huhu Mathefreund123, teilt man die (Ito-)SDE $X_t=b(t, X_t)dt + s(t, X_t)dB_t$ durch $dt$, so ergibt sich $\frac{dX_t}{dt}=b(t,X_t) + s(t, X_t)dW_t$, wobei $W_t$ eine stochastische Distribution ("weißes Rauschen") ist. Man kann dies als "verrauschte" (gestörte) DGL betrachten. Ob diese Störungen nun etwa in fehlerbehafteten Messprozessen liegen, fundamentalerer Art sind (etwa quantenmechanisch) oder aus den Modellannahmen herrühren (wie etwa bei der Bewegung des risky asset im BS-Modell), spielt nun keine Rolle. Alle solche Situationen werden durch die SDE modelliert. Inwiefern ein weißes Rauschen (es gibt noch andere) das richtige Modell für Zufallseinflüsse darstellt, ist eine andere Frage (allerdings ist es sicher nicht das schlechteste Modell. $W_t$ ist in einem gewissen Sinne - den zu erklären den Rahmen einer solchen Anwort bei weitem sprengt - nicht zeitlich autokorreliert und normalverteilt). Vereinfachen wir die Situation und betrachten den zeitlich homogenen Fall, also $dX_t=b(X_t) dt + s(X_t) dB_t$. Die Lösung ist dann im Wesentlichen (unter gewissen Beschränkheitsannahmen an $b$ und $s$) ein (starker) Markov-Prozess. Dies erlaubt eine Interpretation der Dgl. nahe der deterministischen Sicht. Die "Dynamik" von $X$ ergibt sich dann aus den Koeffizienten $b$ und $s$ ohne Berücksichtigung der Vergangenheit, d.h. etwa Anfangswertprobleme können formuliert werden. Vereinfachen wir die Situation noch weiter (wie im BS-Modell) zu $dX_t=b X_t dt + s X_t dB_t$. Nehmen wir einmal kurz zusätzlich $s=0$ an, so ergibt sich eine ziemlich langweilige Situation, ein exponentiell wachsender Prozess. Vergleichen wir diesen einmal mit einer (isotropen, homogenen) Konvektions-Diffusionsgleichung (mit konstantem Strömungsfeld), etwa $\frac{\partial u_t}{\partial t} = a \Delta u_t + v \cdot \nabla u = 0$. Das mag nun zunächst ein wenig aus dem Himmel fallen, wird aber vermutlich gleich klarer. Die Lösung entspricht dann der Situation mit $a=0$. Der Koeffizient $b$ entspricht dem Strömungsfeld $v$ und heisst deshalb auch DRIFT(-Koeffizient). Betrachten wir nun wieder den Fall mit allgemeinem $s$. Wie ist dieser Fall zu interpretieren? Nun, eine kurzer Blick auf den infinitesimalen Erzeuger der SDE (dieser ist $\frac{1}{2} \Delta$) legt nahe, wie die zufällige "Störung" wirkt - wie eine Diffusion! Die Lösung der SDE "entspricht" also einer Konvektions-Diffusions-Lösung (in der $a\not=0$ gilt). Demzufolge heisst $s$ auch DIFFUSIONS(-Koeffizient). Auf das BS-Modell übertragen: $b$ beschreibt den langfristigen Trend (eines steigenden Assetpreises) und $s$ die "Streuung" also die zufällige Abweichung von diesem Trend. $s$ wirkt wie eine Diffusion, verschiedene Realisationen von $X_t$ weichen also vom deterministischen $Y(t) = \exp[bt]$ "im Mittel" um $st$ ab. Hoffentlich hilft dies ein wenig. lg, AK.


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Mathefreund123
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  Beitrag No.2, vom Themenstarter, eingetragen 2019-05-07

Hallo AnnaKath, Danke für deine schnelle und ausführliche Antwort! Die Interpretation der SDE im BS-Modell habe ich verstanden. Außerdem ist mir jetzt klarer geworden woher die Begriffe des Drifts und der Diffusion, die immer in der Literatur erwähnt wurden, herkommen. Nun habe ich noch folgende Fragen: 1)Wie leitet man die SDE im BS-Modell her? 2)Was ist an ihr so besonders? 3)Warum wünscht man sich, dass der Preisprozess sich wie diese SDE verhält? Ist das realistisch? 4)Hast du gegebenenfalls gute Literatur, wo ich das nachlesen kann? Ich weiß, dass sind viele Fragen aufeinmal, ich hoffe du hast die Zeit sie zu beantworten. LG Mathefreund123


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AnnaKath
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  Beitrag No.3, eingetragen 2019-05-07

Guten Morgen Mathefreund123, natürlich fällt es nicht nur leicht, teils kritische Bemerkungen über ein Modell zu machen, das immerhin einen Nobelpreis erhalten hat. Ich beschränke mich daher auf Dinge, von denen ich glaube, dass sie mittlerweile common sense sind. 1) Die zugrunde liegende Dynamik des Basiswertes $S_t$ wird in dem Modell schlicht vorausgesetzt/angenommen. Allerdings fällt sie natürlich nicht einfach vom Himmel, sondern wird wirtschaftswissenschaftlich motiviert. Die durchaus plausiblen Eigenschaften einer geometrischen Brown'schen Bewegung (so nennt man ja die Lösung der SDE), sind im Wesentlichen: - Der Erwartungswert wächst exponentiell mit der Zeit, das entspricht einer risikolosen Kapitalverzinsung. Diese Annahme ist durchaus realistisch, denn rationale Agenten (und an den Finanzmärkten handelnde Akteure verhalten sich i.A. diesem Modell recht ähnlich) würden bei einem qualitativ anderen Verhalten entweder nur risikobehaftete oder risikolose Assets in ihr Portfolio aufnehmen. Dies ist aber in der Realität nicht zu beobachten. - Die Zuwächse von $S_t$ sind multiplikativ und unabhängig. Diese Annahme (und die starke Markov-Eigenschaft) von $S_t$ lässt sich aus der Annahme eines Marktes mit vollständiger Information herleiten. Pflichtmitteilungen börsennotierter Unternehmen und i.A. recht gut informierte Investoren machen dies zumindest halbwegs plausibel. - Der diskontierte Prozess $S_t/S_0$ ist log-nomalverteilt. Dies ist für einen Aktienkurs wohl nicht wirklich realistisch; immerhin ist der Wertebereich und das qualitative Verhalten dieser Verteilung dem realen Verhalten an Finanzmärkten (in ruhigen Zeiten) hinreichend ähnlich, um das Modell zumindest in Betrachtung zu ziehen. Des Weiteren lässt sich das BS-Modell als zeitstetiger Grenzfall eines anderen, recht weit verbreiteten Vorgängermodells (CRR-Modells) auffassen. 2) Die Bedeutung des BS-Modells ist m.E. im Wesentlichen historisch. Es ist schlicht das erste, mathematisch konsistente Modell zur Bewertung von Derivaten. Einerseits hat es damit die Tür zu einer Reihe (spannender) Modelle und Methoden aufgestossen und ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil es viele Begriffe geprägt hat, die man auch heute noch in finanzmathematischen Modellen verwendet ("Griechen", "(implizierte) Volatilität"). Ein physikalisches Analogon mag man etwa in der geometrische (Strahlen-)Optik sehen. Auch wenn natürlich die Beschreibung von elektromagnetischen Wellen durch die Maxwell-Gleichungen weitaus "korrekter" ist, sind z.B. Begriffe wie "optische Dichte" oder das Phänomen der "Totalreflexion" historisch aus dem Vorgängermodell entstanden - und wird heute noch verwendet. (Allerdings würde ich diese Analogie nicht übertreiben - in der Physik hat man eine recht objektive Realität gegen die man Modelle kalibriert; ausserdem sind Vorgängertheorien in der Regel als Grenzfälle enthalten. In der Finanzmathematik ist das üblicherweise nicht der Fall!) 3) Dazu habe ich bereits unter 1,2 etwas geschrieben. Ein weiterer Punkt ist vielleicht, dass das BS-Modell gerade noch für Wirtschaftswissenschaftler berechenbar ist... (Etwas polemisch, zugegeben). 4) Nun, mit solchen Empfehlungen tue ich mich schwer. Näherst Du Dich der Thematik eher mathematisch? Dann führt m.E. nichts am nur mäßig unterhaltsamen "Stochastic Differential Equations", B. Öksendahl, Springer Berlin Heidelberg - meine 5th ed. ist von 2000, vorbei. lg, AK.


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Mathefreund123
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  Beitrag No.4, vom Themenstarter, eingetragen 2019-05-07

Abend AnnaKath, vielen vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Du hast mir echt weiter geholfen! Ich denke die meisten Frage, die ich hatte sind geklärt. Die Buchempfehlung werde ich mir die nächsten Tage anschauen. Danke LG Mathefreund123


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Mathefreund123 hat die Antworten auf ihre/seine Frage gesehen.
Mathefreund123 hat selbst das Ok-Häkchen gesetzt.

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